5. Mai 1910

Die Baumblüte in Guben scheint in Berlin namentlich von dem Berliner Tageblatt etwas scheel betrachtet zu werden. Zu einer Betrachtung „Frühling in Berlin“ lesen wir u. a. folgenden Absatz: „Der Berliner hat untrügliche Anzeichen dafür, wenn der Frühling wirklich gekommen ist, Anzeichen, die alt und von der Tradition geheiligt sind. Frühling ist für den Berliner -  wenn die Baumblüte begonnen hat und die ersten Sonderzüge nach Werder abgelassen werden. Sie sind, besonders Sonntags,  beinahe so überfüllt wie die ersten Ferienzüge nach der Ostsee. Denn das Bedürfnis nach Naturgenuß bricht bei dem Berliner nach der langen Entbehrung des Winters mit einer elementaren Gewalt durch, die noch erhöht wird durch die Aussicht auf den realeren Genuß der süßen Obstweine, die so süffig die Kehle hinuntergleiten, daß man seinen Rausch erst merkt, wenn es zu spät ist. Jedermanns Sache ist dieses sonntägliche „Naturkneipen“ im sonst so stillen Werder denn auch nicht. Und wie verwöhntere Globetrottler über das plebejisch  gewordene Monte Carlo verdächtig die Nase rümpfen und weiter südwärts, gen Ägypten, ziehen, so gibt es anspruchsvollere Berliner Frühlingsfreunde, die zur Baumblüte, statt nach dem nahen Werder zwei Stunden weit nach dem hübschen lausitzischen Städtchen Guben fahren, von dem sie vorher nur wußten, daß es in der Herstellung von Filzhüten sehr achtbares leistet.“ – Es ist nur gut, daß es in der Hauptsache Berliner Gäste sind, die unparteiisch ihr Urteil dahin abgegeben haben, daß Werder schön, Guben aber weit schöner ist. Demzufolge ist es niemand zu verdenken, wenn er das Schönere aufsucht, sobald ihm Gelegenheit geboten ist.